Lesen ist elementare kulturelle Basistechnik, die in allen Lebensbereichen vorausgesetzt wird. Es ist bedeutend für das Verständnis von Sprache und die Ausbildung von kommunikativen Kompetenzen.
Die Pisa-Studien zeigen aber deutlich, dass die Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen, insbesondere von Jungen, in den letzten Jahren rapide abgenommen hat. Dies hat natürlich negative Auswirkungen auf Bildungschancen, auf die Entwicklung von Vorstellungen und Einstellungen, aber auch auf ganz alltägliche Dinge wie das Lesen von Preisschildern oder Kochrezepten.
Diese Feststellungen treffen prozentual besonders häufig auf die Klienten der Jugendhilfe im Strafverfahren zu. Aus dieser Erkenntnis heraus entstand die Idee des »Dresdner Bücherkanons«, einem neuen, innovativen Projekt der Jugendhilfe im Strafverfahren.
Was will der Dresdner Bücherkanon?
Das Jugendamt/die Jugendhilfe im Strafverfahren (JuhiS) hat die bundesgesetzliche Pflicht, im Rahmen des Jugendstrafverfahrens unter anderem eine Stellungnahme für die Justiz (Staatsanwaltschaft/Richterschaft) zu erstellen, in der sie die »Lebensumstände« und die Persönlichkeit(Stärken und Schwächen) der Klienten aufzeigt sowie bedarfsgerecht, erzieherische Hilfsangebote benennt und durchführt, die für eine zukünftige möglichst straffreie Persönlichkeitsentwicklung hilfreich sind. Darüber hinaus hat die JGH in unterschiedlichster Form Präventionsangebote vorzuhalten.
Der Dresdner Bücherkanon als neue ambulante erzieherische Maßnahme möchte einen kleinen Beitrag dazu leisten, den Fehlentwicklungen im Bereich elementarer sozialer Grundfertigkeiten und Kompetenzen junger Leute entgegenzutreten. Über das Angebot von jugendgerechter Literatur an delinquente Kinder, Jugendliche und Heranwachsende versuchen wir, einen Zugang zum sozialen und familiären Umfeld der jungen Leute zu finden und somit das gegenseitige Verstehen zu befördern. Die Jugendlichen sollen in Kontakt zu altersgerechter Literatur kommen, die sich mit ihren Sorgen, Problemen, Lebenswelten, aber auch mit »ihren« Straftaten aus einem anderen Blickwinkel auseinandersetzt.
Das Lesen der Romane, das Bearbeiten von begleitenden Aufgaben und das Gespräch zum Buch sollen somit einen Anreiz bieten, sich anhand der Literatur mit der eigenen Tat, den eigenen Problemen und Lebensweisen sowie den eigenen Erfahrungen und Einstellungen intensiver auseinanderzusetzen. Unabhängig von der Bearbeitung der Straftat wird den jungen Leuten über die Bücher eine »neue Welt« eröffnet, die die Phantasie und das Vorstellungsvermögen anregen. Die Lesekompetenz und die kommunikativen Fähigkeiten werden gestärkt, so dass der Bücherkanon einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, Defiziten beziehungsweise bestimmten Versäumnissen zu begegnen. Bei Interesse beziehungsweise erzieherischem Bedarf können sich natürlich an das Lesen und die Gespräche weitere kulturelle Maßnahmen anschließen, wie z. B. Kino, Museums- und Theaterbesuche, Gesprächskreise.
Diese können Anregungen bieten für eine »sinnvolle« Freizeitgestaltung und manchmal auch einen mitentscheidenden Aspekt für die »Weichenstellung« in der eigenen Lebensführung darstellen.
An wen richtet sich der Dresdner Bücherkanon?
Der Dresdner Bücherkanon kann in unterschiedlichen Stadien des Jugendstrafverfahrens Anwendung finden. Er richtet sich somit an delinquente Kinder, Jugendliche und Heranwachsende im Alter von 12 bis 20 Jahren.
- Im Rahmen der Arbeit des Interventions und Präventionsprogramm(unmittelbar nach der Polizeivernehmung) besteht die Möglichkeit, die Bearbeitung eines Buches als freiwillige Vereinbarung mit dem Klienten auszuhandeln.
- Buchbesprechungen können ebenfalls im Rahmen von Diversionsauflagen oder als Auflagen des Gerichts durchgeführt werden.
- Die Zeit im Jugendarrest kann auch für Buchbesprechungen genutzt werden, entweder als Erfüllung einer noch offenen Auflage oder zur »Gestaltung« der Arrestzeit.
- Im Rahmen der Prävention besteht die Möglichkeit für Schüler und Schülerinnen Buchbesprechungen anzubieten (unterrichtsintegriert oder als Projekttag).
Der Dresdner Bücherkanon wird in den Fällen eingesetzt, wo junge Leute aus Neugier, zur Problembewältigung, im Rahmen von Mutproben straffällig geworden sind. Bei Ersttätern und Bagatellstraftaten (als Alternative im Bereich bis 20 Arbeitsstunden) bietet sich der Einsatz des Bücherkanons an. Es soll ein enger Bezug des Buches zur Straftat oder zu den Lebensbedingungen des jungen Menschen bestehen.
Wie funktioniert das Projekt Dresdner Bücherkanon?
Der Dresdner Bücherkanon besteht aus bisher ca. 100 Jugendbüchern, die sich altersgerecht mit Themen auseinandersetzen wie z. B. Gewalt, Mobbing, Drogen, sexuellem Missbrauch, Diebstahl, Graffiti, aber auch Problemen im Elternhaus, erste Liebe, Essstörungen, Gefahren aus dem Internet, selbstverletzendem Verhalten usw. Anhand der aktuellen Lebenssituation, der Straftat oder den Interessen der Jugendlichen wählt der Jugendgerichtshelfer oder die Jugendgerichtshelferin ein Buch aus, welches der Jugendliche innerhalb von ca. vier Wochen liest.
Um den Auseinandersetzungsprozess zu befördern, bekommen die jungen Leute Aufgabenstellungen zum Buch, die sie bearbeiten sollen. Im Rahmen einer Buchbesprechung (zwischen Jugendlichem und der Sozialarbeiterin oder dem Sozialarbeiter) findet dann ein Austausch darüber statt, welchen Bezug das Buch zur Situation oder der Straftat des Jugendlichen bietet und welche Lernerfahrung das Lesen gebracht hat. Der Sozialarbeiter oder die Sozialarbeiterin klärt hierbei ebenfalls ab, ob die Maßnahme »Buchbesprechung« in der Situation ausreichend war oder aus erzieherischer Sicht eine weitere Einflussnahme notwendig ist.
Junge Leute, die Schwierigkeiten beim Lesen haben, können durch unsere Betreuungslotsen (Ehrenamtliche) bei der Bewältigung des Lesestoffs und der anschließenden Reflektion zum Buch unterstützt werden, so dass jeder Jugendliche die Chance hat, die Aufgabe erfolgreich zu bewältigen. Das Dresdner Buchprojekt wird außerdem ergänzt durch ein kunsttherapeutisches Angebot der Jugend Kunstschule Dresden, die speziell im Arrest die Möglichkeit bietet, dass Jugendliche ihre Gedanken und Emotionen zu einem Buch oder zur eigenen Situation gestalterisch verarbeiten.